commercetools: Vom Software-Start-up zum Isar-Valley-Unicorn
AT&T, Audi, BMW, Bang & Olufsen, Danone, Flaconi, Lieferando. Namhafte Weltmarken setzen bei Konzeption, Umsetzung und Skalierung ihrer E-Commerce-Kanäle auf commercetools. Das gleichnamige Münchener Unternehmen mit Standorten in Europa, USA, Asien und Australien ist globaler Marktführer im Bereich cloud-basierte E-Commerce-Lösungen. Eine 140-Millionen-Dollar-Finanzierungsrunde im September 2021, angeführt vom amerikanischen Top-Investor Accel, trieb die Bewertung des bayerischen Grown-ups auf rund 1,9 Milliarden Dollar. Eine Erfolgsgeschichte.

commercetools – ein Münchener Einhorn
Die meisten Einhorn-Märchen beginnen nicht auf der Weltbühne, sondern werden zunächst mit kleiner Feder geschrieben. Das gilt insbesondere im „Isar Valley“, wie München unter IT- und Hightech-Szeneplayern zunehmend genannt wird, und auch im Fall des heutigen Unicorns commercetools: Die beiden Gründer – Dirk Hoerig und Denis Werner – lernen sich beim Hallenvolleyball kennen, beide studieren Wirtschaft und Informatik. Die Leidenschaft für Software schweißt die Beiden zusammen. Aus Sportkollegen werden Freunde, aus Freunden werden Geschäftspartner: 2003 gründen sie neben dem Studium in München eine Agentur, sie entwickeln moderne E-Commerce-Lösungen. Die beiden Jungunternehmer bringen erste Projekte erfolgreich zum Abschluss, das Geschäft läuft gut. Ab 2006 tüfteln sie an der Umsetzung erster eigener E-Commerce-Lösungen.
Das ist auch notwendig: Die Online-Landschaft entwickelt sich weiter. Mit technologischem Fortschritt verändern sich auch die Anforderung an Handel und Unternehmen in rasanter Geschwindigkeit. Existierende Lösungen sind für die Herausforderungen der Online-Händler nicht mehr ausreichend. Die beiden Geschäftspartner erlauben sich, „größer“ zu träumen – und eine Vision zu entwickeln: Den Markt für E-Commerce mit eigenen, neuartigen Lösungen auf ein neues Level zu heben. Dafür müssen sie wachsen.
2000er Jahre: Venture-Capital-Brachlandschaft Deutschland
Werner und Hoerig brauchen Eigenkapital, sie wollen sich Wagniskapitalinvestoren an Bord holen – zur damaligen Zeit keine simple Mission. Der Software-Markt ist wettbewerbsintensiv, die Geldgeber zu dieser Zeit noch zurückhaltend aufgrund der Erfahrungen des Neuen Marktes um die Jahrtausendwende. Die Venture-Capital-Landschaft ist in Deutschland noch kaum entwickelt, vorhandene Strukturen sind intransparent, Start-up-Finanzierungen im Hightech-Sektor für viele heimische Investoren noch Neuland. Bei den wenigen infrage kommenden VCs blitzen die Gründer mit ihren zukunftsweisenden, aber noch frühen Ideen ab.
Auf Empfehlung eines ihnen bekannten Entrepreneurs wenden sich Werner und Hoerig an Bayern Kapital. Die Venture-Capital-Gesellschaft des Freistaats Bayern verfolgt seit ihrer Gründung 1995 gemäß dem Motto ‚Public Money – Private Funds‘ den öffentlichen Auftrag, Finanzierungslücken im Hightech-Markt zu schließen und vielversprechende Innovationen sowie skalierbare Technologien dadurch auf Kurs zu bringen und zu halten. Bayern Kapital erkennt das Potenzial der ersten E-Commerce-Lösungen des jungen Unternehmens. Zusammen mit dem strategischen Partner High Tech-Gründerfonds und dem Business Angel Benedict Rodenstock ermöglicht Bayern Kapital 2006 den erfolgreichen Abschluss einer Seed-Runde – ein Jahr, bevor eine kalifornische Firma mit ihrem neuen Produkt „iPhone“ die Online-Welt, und damit auch den Online-Handel, auf den Kopf stellte.
Die Online-Welt macht mobil
Mit Verbreitung der ersten Smartphones liegt für viele Marktteilnehmer das Ausmaß der Mobile-Disruption noch im Dunkeln. Facebook, Instagram, Whatsapp – vor Beginn der 2010er Jahre stecken diese Informationskanäle noch in den Kinderschuhen. Nur wenige Entwickler ahnen, in welchem Ausmaß diese Plattformen unser gesellschaftliches Zusammenleben, und auch die Art, wie Verbraucher und Endkunden sich über Produkte und Marken informieren, revolutionieren würden. Für Hoerig und Werner ist absehbar, dass sich der Online-Handel von klassischen Computern und Laptops zu mobilen Endgeräten verlagern wird. Generation Smartphone zwingt den Online-Handel zur Transformation.
Alles auf Anfang: Technologischer Reboot
Die damals verfügbaren E-Commerce-Lösungen – auch die ersten Produkte von Werner und Hoerig – bestehen aus technischer Sicht aus quasi fertigen Plattformbestandteilen. Diese einzelnen Module und Programmbestandteile funktionieren gut und sind für Händler und End-User ansprechend. Doch im Big-Brand- und Enterprise-Segment sind für die wachsenden technologischen Anforderungen – neue, unterschiedliche mobile Endgeräte, tausende Online-Bestellungen oder Anfragen pro Minute, globalisierte Absatzmärkte – flexiblere, schnellere und leistungsfähigere Lösung erforderlich. Etwas in Richtung LEGO-Prinzip: Ein E-Commerce-Betriebssystem, das den Unternehmen die Freiheit gibt, ihre Online-Absatzmärkte selbstständig von Null aufzubauen und ständig je nach Bedarf individuell weiterzuentwickeln.
Die Idee für commercetools ist geboren. Doch die informationstechnologische Architektur von dem, was Hoerig und Werner im Kopf haben, unterscheidet sich grundsätzlich von ihren bisherigen Software-Lösungen. Um ihre Idee zu verwirklichen, muss ihr Unternehmen sich neu erfinden. Rund vier Jahre nach der Gründung, mitten in der Wachstumsphase, wollen die beiden Unternehmer plötzlich den Restart-Button drücken. Ein Entschluss, der auf Seiten der Investoren Skepsis auslöst. Das Timing der beiden ist allerdings gut, sie antizipieren die Marktentwicklung vergleichsweise früh. Doch damals will niemand weiteres Kapital geben. Der Idee geht nur deshalb nicht die Luft aus, weil öffentliche VC-Investoren an Bord sind, die frei von kurzfristigem Exit-Druck geduldig an die Vision der Gründer glauben und dadurch die strategische Neuausrichtung ermöglichen.
Das richtige Produkt zur richtigen Zeit
Mit Entwicklung der eigentlichen commercetools-Plattform gelingt dem Gründerduo ein Meilenstein. 2008 wird Red Bull als Kunde gewonnen, 2011 erfolgt eine Standortausweitung nach Berlin, 2013 geht das Unternehmen mit der ersten Headless-Commerce-Software an den Markt. Das ist der eigentliche Turbo-Zündknopf. Erfolgreiche Pilot-Partnerschaften bringen Stein um Stein ins Rollen: 2014 steigt mit REWE Digital ein neuer Hauptinvestor bei commercetools ein, das Unternehmen stellt die Software-Basis für den gesamten REWE-Online-Handel. Nur wenige Monate später expandiert commercetools in die USA (Durham, North Carolina), um das Momentum der technologischen Vorreiterrolle zu nutzen.
Die frühe Expansion stellt ein gewisses Risiko dar, bewährt sich allerdings als Wachstumskatalysator. In den darauffolgenden vier Jahren eröffnet das Unternehmen weitere Standorte in Amsterdam, London, Singapur, Sydney und Zürich – das commercetools-Netz wird immer dichter. Zeitgleich gewinnt das Unternehmen viele namhafte Großkunden. 2019 steigt mit Insight Partners (Twitter / Shopify / alteryx) ein weltweit führendes Private-Equity- und Venture-Capital-Haus bei commercetools ein, um dem Wachstum noch mehr Auftrieb zu verleihen.
Ein Münchener Einhorn wird geboren
Mit Beginn der Corona-Pandemie steht commercetools, wie fast alle Unternehmen, zunächst zwar vor internen organisatorischen Herausforderungen. Für die Skalierung des Geschäftsmodells entpuppt sich die Krise mit ihrem Digitalisierungsimpuls jedoch als Beschleuniger: Allein der Januar 2021 ist erfolgreicher als die ersten fünf Gründungsjahre kumuliert. Und die Erfolgsgeschichte ist noch nicht am Ende.
Im Sommer 2021 steigt mit Accel ein weiterer Top-Investor aus dem Silicon Valley ein. Die 140-Millionen-Dollar-Runde treibt die Bewertung des Münchener Unternehmens auf insgesamt 1,9 Mrd. USD. Ende des gleichen Jahres übernimmt commercetools die Composable-Frontend-Plattform Frontastic. Damit ist der Grundstein für den Aufbau neuer Wachstumsperspektive gelegt. Die Idee: Zur Erweiterung des Angebotsspektrums sollen in Zukunft einzelne Teile der Plattform (beispielsweise Checkout, Abonnements oder Suchfunktionen) als eigenständige und verkaufsfähige Produkte angeboten werden. Durch diese Fragmentierung schafft commercetools alle Voraussetzungen, langfristig weitere Unternehmen mit an Bord zu holen, und dadurch die eigene Marke weiter zu diversifizieren.
Im Bereich Enterprise-E-Commerce-Lösungen ist commercetools heute globaler Marktführer, beschäftigt an neun Standorten über 350 Mitarbeiter*innen aus rund 45 Ländern. Die beiden Gründer sind nach wie vor an Bord – und ambitioniert wie eh und je: Über ihre Plattform hinaus soll sich das Unternehmen in den kommenden Jahren zu einer global erfolgreichen Tech-Handelsmarke für E-Commerce-Tools entwickeln, wofür mit der Akquisition von Frontastic die ersten Weichen gestellt wurden. Eines ist sicher: Ihrer Vision sind Hoerig und Werner schon heute einen großen Schritt näher.